„Viele Patient:innen empfinden sich selbst als Notfall“

Kritische Selbsteinschätzung der Patient:innen erleichtert die medizinische Versorgung

Deutschlandweit sind nur rund 15 Prozent der Patient:innen in den Notaufnahmen der Krankenhäuser aus medizinischer Sicht ein lebensbedrohlicher Notfall. „Wenn jedoch jemand z. B. Schmerzen hat und die Hausarztpraxis nicht erreicht, dann erlebt er sich selbst als Notfall“, sagt Dr. Dietmar Daubner, der Ärztliche Leiter der Zentralen Notaufnahme (ZNA) am Klinikum Rheine, Standort Mathias-Spital. „Und es gibt viele Erkrankungen, die akut nicht gefährlich sind, aber z. B starke Schmerzen verursachen können.“ In der Folge sieht sein Team viele Menschen, deren Leben nicht akut gefährdet ist – das sorgt für lange Wartezeiten für Patient:innen, bindet Personal und verursacht hohe Kosten für das Gesundheitssystem. Wie erkennen Patient:innen, ob sie ein Notfall sind? Und was erwartet sie in der ZNA?

Lebensgefahr besteht zum Beispiel, wenn die Atmung nicht in Ordnung ist – z. B. bei starker Luftnot oder verlegten Atemwegen. Dies gilt auch, wenn der Kreislauf betroffen ist, z. B. bei hohem oder niedrigem Blutdruck, durch stark blutende Verletzungen, Kreislauf-Stillstand oder Herzinfarkt-Symptome. Dann ist der Rettungsdienst unter der Telefonnummer 112 zu rufen. Schwere Gewalteinwirkung auf den Kopf, Schlaganfall-Symptome, plötzliche starke Kopfschmerzen, vor allem in Verbindung mit Fieber, Lähmungen oder Bewusstlosigkeit, weisen auf eine notfallmäßige Gefährdung des Gehirns hin. Dies sind Notfälle, für die die ZNA alle Kräfte und Ressourcen aufwendet, um Leben zu retten.

Bei Beschwerden, die nicht akut die Lunge, das Herz oder das Gehirn lebensbedrohlich beeinträchtigen, sollte möglichst die Hausarztpraxis kontaktiert werden; außerhalb der Öffnungszeiten die ärztliche Notfalldienstpraxis der KVWL (Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe) am Mathias-Spital. Ist man nicht sicher, wohin man sich wenden soll, erhält man Hilfe unter der Patientenservice-Hotline der KVWL: 116 117. „Außerhalb der Praxissprechzeiten können Patient:innen sich immer die Frage stellen: Muss sich meine Beschwerden jetzt sofort ein Arzt ansehen – oder reicht es auch morgen noch?“, rät Daubner zu einer kritischen Selbsteinschätzung. Die ist jedoch einem Menschen ohne Fachkenntnisse nicht immer möglich: Woher sollen sie wissen, ob der Schmerz im Verlauf der Nacht nicht zu einer gefährlichen Situation führt? Hier hilft das Patienten-Navi der KVWL weiter, ein Online-Fragebogen zur Selbsteinschätzung auf der Internetseite 116117.de.

Behandlungsreihenfolge nach Dringlichkeit

Oft kommen Patient:innen mit akuten Symptomen auch mit einer ärztlichen Einweisung. Die Aufgabe der ZNA ist es dann, sich auf Basis der vorhandenen Beschwerden und Symptomen grundsätzlich ein eigenes Bild zum Gesundheitszustand der Person zu machen. Wer sich auf den Weg in die ZNA macht, wird von einer fachkundigen Medizinischen Fachangestellten oder einem/einer Notfallpfleger:in empfangen. „Dies ist unabhängig davon, ob die betreffende Person die ZNA selbstständig aufsucht oder mittels Rettungsdienst erreicht“, so Iris Holling, Bereichsleiterin Pflege in der ZNA. Anschließend entscheidet das ärztliche und pflegerische Team der ZNA, wie schnell eine Diagnostik und Behandlung notwendig ist (Triage) – davon leitet sich die Reihenfolge und auch die Wartezeit ab. Die Behandlungsreihenfolge erfolgt daher grundsätzlich nach den Beschwerden des/der jeweiligen Patient:in und somit nach der Dringlichkeit. Manchmal werden Patient:innen auch an die im Haus ansässige Notfalldienstpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe verwiesen.

Ist die ärztliche Basisdiagnostik in der ZNA erfolgt, gibt es zwei Möglichkeiten, wie es für Patient:innen weitergehen kann: Entweder werden sie mit dem Befund an die niedergelassenen (Fach-)Ärzt:innen entlassen, wenn eine weitere Behandlung nicht dringend in einem Krankenhaus erforderlich ist. Ist sie dringend und notwendig, werden die Personen stationär aufgenommen. Dies geschieht, wenn der/die Patient:in überwacht werden muss oder es einer ausführlichen kurzfristigen Diagnostik und Therapie im Krankenhaus bedarf. „Bei nicht dringenden Folgeuntersuchungen wird eine ambulante Weiterversorgung angestrebt“, so Daubner. Bei fachärztlichen Praxen ist eine frühzeitige Kontaktaufnahme wichtig, hier lohnt oft auch ein Blick in benachbarte Städte“, gibt Daubner einen Tipp. Auch der Terminservice der Kassenärztlichen Vereinigung unter der Rufnummer 116 117 hilft weiter.

Leisten, was akutmedizinisch Notwendig ist

„Manchmal erleben wir Patient:innen mit Rückenschmerzen, die der Meinung sind, sie würden eine Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) benötigen. Weil ambulante Termine dafür oftmals nicht kurzfristig verfügbar sind und die Patient:innen gerne Gewissheit haben möchten, warten sie nicht ab, sondern kommen mit dem Wunsch einer sofortigen MRT-Untersuchung in die Zentrale Notaufnahme. Für solche Fälle ist die ZNA unseres Akutkrankenhauses jedoch nicht gedacht“ erläutert Dr. Bernd Roetman, Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie am Klinikum Rheine. Auf sein Team entfallen rund 70 Prozent aller chirurgischen Patient:innen, die in die ZNA kommen. „Wir tun, was akutmedizinisch notwendig ist“, sagt er. „Chronische oder wenig bedrohliche Beschwerden abzuklären ist nicht Aufgabe einer ZNA. Hier müssen wir uns an Vorgaben durch den Gesetzgeber halten, nach denen auch unsere Ressourcen festgelegt sind.“

Entscheidend ist: „Wer von uns als akuter Notfall eingestuft wird, wird auch sofort von uns versorgt“, sichert Daubner zu. Alle anderen Patient:innen werden nach entsprechenden Ressourcen und Verfügbarkeiten der ZNA untersucht – unabhängig davon, ob sie mit dem Rettungswagen oder selbst in die ZNA kommen. Besteht eine eindeutig lebensbedrohliche Situation, sollte der Rettungsdienst über die Telefonnummer 112 angerufen werden. „Auch hier sitzen Kolleg:innen, die bereits telefonisch gut einschätzen können, ob eine akute Notfallversorgung notwendig ist“, sagt Daubner. Ist das nicht der Fall, geben sie entsprechende Empfehlungen zum weiteren Vorgehen.

Fünf Mythen zur ZNA

  1. Wer mit dem Rettungswagen kommt, wird schneller behandelt.
    Falsch. Alle Patient:innen werden im Triagesystem erfasst und nach Dringlichkeit behandelt. Als erstes wird in der ZNA eine Behandlungsdringlichkeit festgelegt.
     
  2. Wer zuerst kommt, ist auch zuerst dran.
    Falsch. Je schwerer und lebensgefährdender die Verletzung oder Erkrankung, desto schneller erfolgt die Behandlung. Die Reihenfolge wird nach medizinischen Gesichtspunkten festgelegt, nicht nach dem Erscheinen oder dem Selbstempfinden der Patient:innen.
     
  3. Patient:innen werden einfach weggeschickt.
    Falsch. Alle Patient:innen werden angesehen und erhalten eine medizinische Einschätzung. Es erfolgt eine ärztliche Untersuchung und Erhebung eines Befundes. Ist eine akute Behandlung in einem Akutkrankenhaus nicht nötig, werden Patient:innen an die niedergelassenen Haus- oder Fachärzt:innen verwiesen.
     
  4. Die ZNA ist schlecht organisiert, deshalb dauert es so lange.
    Falsch. Der Alltag in der ZNA lässt sich nicht planen. Kein Tag ist wie der andere. Es ist nie bekannt, wer, wann und wie viele Patient:innen kommen und wie akut sie erkrankt sind. Erfordern Patient:innen in Lebensgefahr die volle Aufmerksamkeit des Teams der ZNA, verzögert sich die Behandlung der nicht akut lebensbedrohten Patient:innen.
     
  5. Wenn im Wartebereich wenig los ist, haben die doch nichts zu tun.
    Falsch. Die Wartezeit der Patient:innen ist die Arbeitszeit des medizinischen Teams. Laboruntersuchungen, die Auswertung von Röntgenbildern, interdisziplinäre Rücksprachen mit anderen Fachabteilungen, Befunderstellung und Dokumentation erfordern im Hintergrund zum Teil mehrere Stunden Zeit. Es werden immer mehrere Patient:innen mit unterschiedlichen Erkrankungen parallel von ärztlichem oder pflegerischem Personal der ZNA betreut. Dieser Bedarf erfordert hohen Einsatz und Kompetenz vom gesamten Team.

Der Patientenservice der KVWL

Der Patientenservice der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) ist über die 116 117 erreichbar. Diese Hotline ist eine der entscheidenden Schnittstellen der medizinischen Versorgung. Sie erfüllt zwei wichtige Funktionen: Die 116 117 ist einerseits außerhalb der Praxisöffnungszeiten die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdiensts. Die KVWL richtet sich mit diesem Angebot an Bürgerinnen und Bürger, bei denen abends oder am Wochenende akute Beschwerden auftreten, deren Behandlung nicht bis zur Öffnung der Arztpraxen warten kann. Der ärztliche Bereitschaftsdienst in den Bereitschaftsdienst-Praxen hilft also bei gesundheitlichen Beschwerden, mit denen Patientinnen und Patienten normalerweise in eine Hausarzt- oder Facharztpraxis gehen würden. Typische Fälle für den Bereitschaftsdienst sind: Erkältungskrankheiten, grippale Infekte mit Fieber und Schmerzen, Infektionen von Hals, Nase, Ohren, Magen-Darm-Infekte mit Brechdurchfall, akute Bauchschmerzen, Migräne oder Hexenschuss.

Andererseits ist die 116 117 rund um die Uhr die Terminservicestelle (TSS) zur Vermittlung von Haus- und Facharztterminen. Infos zum ärztlichen Bereitschaftsdienst und zur TSS finden Bürgerinnen und Bürger hier: www.kvwl.de/buerger à Notfalldienst bzw. Terminservicestelle. Die Terminbuchung über die TSS ist auch unter www.116117-termine.de möglich. Bestimmte Fachgruppen sind hier zur „Selbstbuchung“ freigegeben. Darüber hinaus können auch Hausärzte für ihre eigenen Patienten dringende Termine bei Fachärzten online buchen.

Versorgung einer Patientin mit Atemnot durch das medizinische Team, bestehend aus Medizinischen Fachangestellten, Pflegefachkräften und Ärzt:innen

Iris Holling, Bereichsleiterin Pflege der Zentralen Notaufnahme am Klinikum Rheine

Priv.-Doz. Dr. med. Bernd Roetman, Chefarzt der Chirurgischen Klinik III: Unfallchirurgie und Orthopädie am Klinikum Rheine

Dr. med. Dietmar Daubner, Leitender Arzt der Zentralen Notaufnahme am Klinikum Rheine